Von Kira Taszman
Umbruch Süt von S. Kaplanoglu
Am Anfang steht eine Art Exorzismus. Eine Frau wird kopfüber an einem Ast aufgehängt, unmittelbar über einem dampfenden Kessel. Dann fördert ein bärtiger alter Mann eine Schlange aus ihrem Halsinneren zutage … Seltsam surrealistischer Auftakt eines Films, dem solche Elemente ansonsten eher fern sind. Wofür steht die merkwürdige Szene und was wird wem ausgetrieben?
Um Unvereinbarkeiten geht es hier ganz offensichtlich. Genauso wenig wie ein menschlicher Organismus ein idealer Wirt für Schlangen ist, vertragen sich in »Süt« Anspruch und Realität des Protagonisten. Der 20-jährige Yusuf, Sohn einer Milchbäuerin, unterstützt seine Mutter ziemlich lustlos beim gemeinsamen Broterwerb. Die Kühe zu melken und die Milch (türkisch: »süt«) auszutragen, ist ein mühsames Geschäft in dieser ländlichen Gegend: viel Aufwand für wenig Ertrag. Yusuf hat ohnehin andere Ambitionen. Nach Arbeitsschluss liest der junge Mann lieber – sehr zum Unverständnis seiner Mutter. Außerdem schreibt er Gedichte …
Der einsame Held steht eindeutig im Mittelpunkt des Films von Semih Kaplanoglu. Mit melancholischem Blick, der mehr sagt als Worte, bewegt sich Yusuf durch eine überschaubare Welt, in der er sein Potenzial nicht entfalten kann.
Auch Mutter und Sohn reden eher aneinander vorbei. Obwohl die Bäuerin den einzigen Mann im Haus umsorgt und bemuttert, dankt er es ihr kaum. Auf ihre Fragen nach Damenbekanntschaften kann er ihr keine befriedigenden Antworten geben. Bei der alleinstehenden Mutter, die ihr karges Leben leid ist, steht dagegen ein Wechsel im Liebesleben bevor. Sie lässt sich von dem verwitweten Bahnhofsvorsteher den Hof machen. Yusuf weiß nicht so recht, ob er dies akzeptieren oder seine Ehre als Sohn dadurch befleckt sehen soll.
In »Süt« gibt es keine überflüssigen Dialoge. Doch dieses Schweigen ist beredt. Spannung entsteht etwa dadurch, dass die Mutter ihrem Sohn lange eine Postsendung vorenthält, deren Inhalt für ihn von existenzieller Bedeutung ist. Als er sie endlich auspackt, wird nicht gesprochen. Stattdessen rennt Yusuf auf die Chaussee und brüllt seine Freude in den Abend heraus: In einer Literaturzeitschrift ist endlich ein Gedicht von ihm erschienen.
Um Altes und Neues geht es in »Süt«, um materielle Sicherheit und die Anpassung an die Imperative des so genannten modernen Lebens. Ein Symbol für das materielle Scheitern der Kleinfamilie ist auch das klapprige Motorrad, mit dem Yusuf die Milchprodukte ausfährt und das ständig Zicken macht. Für die ländliche Verwurzelung steht ebenso der anfänglich erwähnte Exorzist. Er kommt auch in Yusufs Haus, um daraus eine Schlange zu verjagen. Von einer alten Frau lässt sich die Mutter zudem aus dem Kaffeesatz lesen, bevor sie eine Entscheidung über eine neue Heirat trifft.
»Süt« ist der zweite Teil einer Trilogie von Regisseur Kaplanoglu, der sich demonstrativen Erklärungen beharrlich verweigert. Zuweilen kann sich angesichts des getragenen Erzählrhythmus beim Zuschauer Ungeduld einstellen, aber der Film hat Mut zur Konsequenz. Die moderne Welt ist die große Abwesende, wenngleich sie im Hintergrund stets spürbar ist. Lediglich als Yusuf in die Stadt fährt, um sich mustern zu lassen, erleben wir die übergeordnete Gesellschaft. Am Ende wird es für den Helden zwar einen Umbruch geben, aber keinen Aufbruch. Seinen Traum wird Yusuf (Melih Selçuk) dennoch nicht opfern.
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