SÜT /BASINDAN
"Robert Bresson ist mein Meister" Der türkische Regisseur Semih Kaplanoğlu spricht im Interview mit critic.de über langsames Kino, sensible Männer in der anatolischen Provinz und über Milch liebende Schlangen. Zusammen mit Nuri Bilge Ceylan gehört der 1963 geborene Semih Kaplanoğlu (Der fallende Engel, Meleğin Düşüşü, 2004)zur neuen Generation türkischer Filmemacher. Er ist in Deutschland aber deutlich weniger bekannt als Ceylan, umso mehr lohnt es sich, sein spannendes Werk zu entdecken. Von Kaplanoğlus bisher vier Spielfilmen ist Süt erst der zweite mit regulärem deutschen Kinostart (am 14. Januar 2010, mit immerhin 15 Kopien). critic.de-Autor Thorsten Funke traf den Regisseur in Köln, wo er gerade letzte Hand an Ton und Musik für seinen neuen Film Bal legt, der im Februar im Wettbewerb der Berlinale läuft. Bal ist der dritte Teil der Yussuf-Trilogie, die mit Yumurta (2007) begann. Süt (dt. "Milch") bildet die Mitte der Geschichte über einen in der traditionellen Gesellschaft Anatoliens aufwachsenden Dichter. critic.de: Herr Kaplanoğlu, was verbinden Sie mit dem Begriff "Zeit"? Semih Kaplanoğlu: Zeit ist für mich der Grundstoff des Kinos. Das Wesentliche. Ich frage natürlich wegen der sehr langen Einstellungen in Süt. In der Geschichte geht es um einen jungen Mann, der auf dem Land lebt. Für ihn ist die Zeit sehr bedrängend, weil er damit nichts anzufangen weiß. Ich schneide sehr wenig, um die reine Szene darzustellen, ohne Unterbrechung. Der Zuschauer soll diesen Augenblick mitfühlen, anwesend sein. Ich weiß, dass das manchmal langweilig sein kann. Einmal zeigen Sie eine halbe Minute lang eine unscharfe Wand... In dem Film gibt es nichts Überflüssiges. Menschen können die Zeit, die Langeweile nicht ertragen. Um sie nicht wahrzunehmen, brauchen sie unheimlich viel Aktion drumherum. Ich möchte dagegen gerade dies mit meinen Filmen zum Ausdruck bringen: das Wertvolle der Zeit. Der Jugendliche in dem Film, Yussuf, erfährt viel Schmerz, weil er nicht klar in die Zukunft blicken kann. Er hat Furcht vor ihr. Das ging mir, als ich jung war, auch so. Oft habe ich nachgedacht und nur einen fixen Punkt angestarrt. Die langen Einstellungen sind der Versuch, diese innere Unruhe darzustellen. Fühlen Sie sich wiedererkannt, wenn man Ihre Filme als Meditation bezeichnet? Ja. Einflüsse sind in diesem Zusammenhang der Buddhismus und der islamische Sufismus. Die letzte Einstellung ist eine echte Schönheit, sie geht über vier Minuten. Wie haben Sie die gedreht? Wie viele Takes gab es? Die Szene spielt im Dunkeln eines Bergwerks, in dem Yussuf am Schluss arbeitet. Er kommt beim Schichtwechsel auf die Kamera zu und raucht eine Zigarette. Das Bergwerk ist in Betrieb, es fährt täglich drei Schichten. Zuerst habe ich die Arbeiter beobachtet, danach haben wir die Szene zweimal gedreht. Das heißt, die Arbeiter, die im Hintergrund entlanglaufen, sind echte Arbeiter, keine Statisten? Genau. Es ist eine versteckte Kamera, sonst wären sie alle neugierig angelaufen gekommen. Ihr Hauptdarsteller, Melih Selçuk, ist kein professioneller Schauspieler. Wie haben Sie mit ihm gearbeitet? Wir haben vor den Szenen sehr lange geprobt, um einen Rhythmus zu finden. Seine Präsenz auf der Leinwand erinnert an die Filme von Robert Bresson, der seine Laienschauspieler "Modelle" genannt hat. Bresson ist mein Meister. Also eine Art Erinnerung? Man erinnert sich als Erwachsener immer weiter zurück? Ja, so ist es. In Yumurta war Yussuf über 40 Jahre alt, in Süt ist er um die 20, in Bal wird er sieben Jahre alt sein. Yussuf, der Held der Geschichte, ist sehr passiv, ein verloren wirkender junger Mann, fast wie eine Figur in einem Film von Michelangelo Antonioni. Aber seine Probleme sind andere, nicht wahr? Auf dem Land in Anatolien, wo es in einer traditionellen Gesellschaft sehr stark um das Maskuline geht, um eine Männerwelt, in der Kraft eine Rolle spielt, gibt es auch sehr sensible Männer, die sich mit Kunst und Kultur beschäftigen. Yussuf schreibt Gedichte, er ist sensibel, muss aber diesem traditionellen Männerbild entsprechen. Er ist gespalten zwischen diesen beiden Welten, zwischen Tradition und Moderne. Stichwort Tradition und Moderne: Ich weiß, Sie sind Künstler und kein Politiker. Trotzdem die Frage: Liegt die Zukunft der Türkei in der Europäischen Union? Die Türkei hat viele Fortschritte gemacht, um den Anforderungen der EU zu entsprechen und die Demokratisierung voranzubringen, eine funktionierende Zivilgesellschaft zu ermöglichen. Diese Kriterien, die von der Europäischen Union verlangt werden, verhelfen uns Türken natürlich zu einer gewissen Weiterentwicklung. Aber einiges verlieren wir dadurch auch. Zum Beispiel? Wegen der Hygienerichtlinien wird kein Käse aus den Dörfern verkauft werden dürfen. Mit diesen Richtlinien soll ja auch so mancher Franzose seine Schwierigkeiten haben. Ich weiß nicht, ob Sie die Diskussion in Deutschland verfolgen, aber es gibt bestimmte Mitglieder bestimmter Regierungsparteien in Deutschland, die würden nur die erste Szene von Süt sehen und sagen: Dieses Land in der EU? Niemals! (lacht) Das sagen die auch, bevor sie den Film sehen. In dieser Szene wird eine Frau kopfüber an einen Baum gehängt, über einen kochenden Topf Milch. Sie atmet die Dämpfe ein, hustet ganz fürchterlich, und dann kriecht eine Schlange aus ihrem Rachen. Es ist eine sehr archaische, schockierende Szene, die auch symbolisch sehr aufgeladen ist. Existiert diese Art von Ritualen wirklich oder ist das Fantasie, eine Art Traumsequenz? Das gibt es wirklich. In der Region, in der der Film spielt, gibt es Seen, in denen kleine Schlangen leben. Wenn die Landarbeiter sich im Sommer über Nacht auf die Felder legen, passiert es tatsächlich, dass die Schlangen den Menschen in den Rachen kriechen. Um sie aus dem Körper herauszulocken, wird Milch gekocht, denn Schlangen mögen Milch. Man wacht nicht davon auf, wenn einem eine Schlange in den Mund kriecht? Es sind kleine Schlangen, und sie sind sehr schnell und haben eine sehr feuchte Haut. Interview von Thorsten Funke |