22/06/2005
Michael Kienzi / Critic.de
Der fallende Engel
Rätselhaft und verschachtelt erzählter Film über das von Einsamkeit und sexuellem Missbrauch gezeichnete Leben einer jungen Frau.
Dass man eine Geschichte nicht immer so erzählen muss, wie es sich am ehesten anbietet, beweist der Filmemacher Semih Kaplanoglu in seinem zweiten Spielfilm. Im Mittelpunkt von Der fallende Engel (Meleğin Düşüşü) steht das Schicksal der jungen Frau Zeynep (Tülin Özen), die unter sozialer Isolation ebenso leidet wie unter ihrem ständig betrunkenen Vater (Musa Karagöz). Erstaunlicherweise macht Kaplanoglu aus dieser Ausgangssituation kein Sozialdrama, wie man es erwarten würde, sondern eine verschachtelt konstruierte Erzählung, die sowohl dramaturgisch als auch filmisch Mut zum Experiment zeigt. Unter Einsatz eines formal strengen Stils, der sich durch lange Einstellungen, unterbelichtetes Filmmaterial sowie einem fast vollständigen Verzicht auf Dialoge auszeichnet, werden wir zunächst geradezu dokumentarisch in Zeyneps Arbeitsalltag eingeführt. Als Zimmermädchen in einem Hotel verbringt sie die meiste Zeit in verlassenen Zimmern und ist dort, genau wie in ihrem restlichen Leben, die meiste Zeit mit sich allein.
Der Schauplatz Istanbul wird in Der fallende Engel nicht als pulsierende Metropole gezeigt, sondern als graue und trostlose Stadt im Winter, in der die emotionale Kälte zwischen den Figuren und ihre Unfähigkeit miteinander zu kommunizieren noch deutlicher zur Geltung kommen. Obwohl sich Zeynep häufig inmitten großer Menschenmassen bewegt, kommt es dabei nie zu sozialen Kontakten. Selbst bei ihrer Arbeit, wo ihr der schüchterne Page Mustafa (Engin Dogan) den Hof macht, lässt sie niemanden an sich ran. Bei so einem Verhalten stellt sich natürlich die Frage, was mit dieser jungen Frau eigentlich los ist, aber eine halbwegs befriedigende Antwort darauf bekommen wir erst im späteren Verlauf des Films. Nach ihrem Arbeitstag bereitet Zeynep wie immer das Abendessen für ihren Vater in der gemeinsamen Wohnung zu. Sie übernimmt ihm gegenüber nicht nur die Rolle der Tochter, sondern auch die der abwesenden Ehefrau. Da kommt es auch vor, dass sich der betrunkene Vater nachts an ihr Bett setzt und sie intim berührt.
Die Darsteller suhlen sich nicht in Emotionen, sondern geben durch ihre nach innen gekehrte Spielweise nur eine Ahnung davon, wie ihre Figuren sich gerade fühlen. Sie verweigern sich einem voyeuristischen Blick und drücken ihre Gefühle nicht durch Sprache aus, der hier als Träger von Information zutiefst misstraut wird, sondern durch die Gesamtwirkung an scheinbar beiläufiger Gestik und Mimik, die für einen kurzen Augenblick andeutet, wie es im Inneren der Figuren aussieht. Hinzu kommt noch, dass Kaplanoglu auf konventionelle Auflösungsverfahren wie Schuss-Gegenschuss weitgehend verzichtet und somit vom Zuschauer mehr Eigeninitiative beim Lesen der Bilder gefordert wird. Dabei ist Aufmerksamkeit gefragt, weil hier Bedeutendes teilweise nur sehr flüchtig gezeigt wird.
Kaum hat man sich auf den konzentrierten Erzählrhythmus des Films eingelassen, taucht plötzlich ein zweiter, scheinbar unzusammenhängender, Erzählstrang auf, angesiedelt am anderen Ende der Stadt. Der Tontechniker Selcuck (Budak Akalin), der indirekt den Tod seiner Frau verschuldete, isoliert sich in seiner Wohnung und wird ebenso von Einsamkeit gequält wie Zeynep. Der Kreis schließt sich erst als Zeynep im Auftrag ihrer Hausmeisterin bei Selcuck einen Koffer mit Kleidern seiner verstorbenen Frau abholt. Es bleibt bei dieser kurzen Begegnung und die Geschichte von Selcuck bricht genauso abrupt ab, wie sie in die Handlung eingefügt wurde. Der Koffer voll Kleider wird Zeyneps Leben jedoch massiv verändern.
Mit fortschreitender Handlung legt der Film immer mehr seine komplexe Struktur offen und stellt die zuvor scheinbar lineare Handlung wieder in Frage. Der fallende Engel funktioniert wie ein Puzzle, mit der Ausnahme, dass auch nach dem Film einige Teile fehlen. Bei der diesjährigen Berlinale wurde die unheimliche Stimmung des Films von der Kritik häufig mit einem Thriller verglichen, was durch sein ständiges Zurückhalten an Informationen legitimiert wird. Das Unheimlichste ist schließlich das, was im Verborgenen bleibt. Nur das einzige Musikstück des Films, Edward Griegs „Herzwunden“, sticht unangenehm aus dem Gesamten heraus, weil die permanente bedrückende Stille für einen kurzen Augenblick dem Kitsch weicht. Dieser kleine Wermutstropfen schmälert jedoch den faszinierenden Gesamteindruck des Filmes nur gering.