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Josef Lederle / Film Dienst

Atemlos wickelt die junge Frau den goldenen Faden von der Spule, zieht ihn wie Theseus, der den Rückweg aus dem Labyrinth des Minotaurus fand, hinter sich her. Doch er reißt, und die Frau hetzt zurück, beginnt von Neuem. Es ist ein kalter, frostiger Herbsttag in einem Park in Istanbul, aus dem Off hört man das Krächzen von Krähen. Als das Zwirn erneut reißt, sinkt die Frau verzweifelt auf die Knie, rafft sich dann wieder auf und versucht es ein weiteres Mal. Die Kamera beobachtet aus der Distanz das rituelle Tun, dessen Not über die Tonspur deutlich zu vernehmen ist. Die cineastische Referenz dieses klammen Prologs, Tarkowskijs „Nostalghia“ (fd 24 391), wird durch Edvard Griegs verhaltene Tondichtung „Herzwunden“ unterstrichen. Auch die folgende Einstellung hält mit ihrer Abkunft nicht hinterm Berg: Wie Tsai Ming-liang in „Der Fluss“ (fd 35 322) scheint auch Semih Kaplanoglu die Farbpalette des Kinos um subtilste Nuancen von Schwarz ergänzen zu wollen. Der Gang des Hotels, in dem Zeynep als Zimmermädchen arbeitet, droht sich in namenloser Düsternis zu verlieren; nur wenn irgendwo eine Tür aufgeht, lässt der fahle Lichtschein die schummrigen Konturen markanter hervor treten. Die eigenwillige Bezugnahme auf zwei konträre Meister des kontemplativen Kinos (die man im Kontext des türkischen Kinos unschwer um Nuri Bilge Ceylan ergänzen könnte) markiert zugleich auch die Differenz, nicht vorschnell dem Lager des einen oder anderen zugeschlagen zu werden – zumal auch die intertextuellen Bezüge von „Melegin Düsüsü“ nicht gerade auf der Hand liegen. Der gefallene Engel, auf den der Titel rekurriert, sollte jedenfalls nicht vorschnell christlich-jüdisch oder popkulturell interpretiert werden, und auch die Adriadne-Assoziation ist kaum mehr als ein Faden, der in die Geschichte führt.

Dort folgt man den schüchternen Versuchen eines Hotelpagen, mit Zeynep anzubandeln, die aber recht ambivalent reagiert. Abends darf er sie bis zum Bahnhof begleiten, am nächsten Morgen aber wird er angebrüllt, als er auf sie wartet. Was in den Stunden dazwischen passierte, entzieht sich der Helle des Bewusstseins: Wieder ist die Leinwand minutenlang in drückende Finsternis getaucht, als Zeyneps Vater sich zu ihr ins Bett legt; nur mit Mühe kann man erkennen, dass er sie missbraucht. Quälend intensiv übersetzt sich hingegen das angestrengte Hören und Deuten der Geräusche als Zeyneps Angst und Einsamkeit, der sie mit Gebeten und dem magischen Besprechen des Fadens zu entkommen versucht. Äußerlich ist ihr nichts anzumerken; der Kleidungspanzer, mit dem sie sich umhüllt, fällt in den Straßen Istanbuls nicht weiter auf; ihre schweigsame Ernsthaftigkeit erst recht nicht. Der Anstoß zur Änderung der wohl seit langem bestehenden Situation kommt von außen: in Gestalt des Koffers einer Frau, die bei einem Autounfall ums Leben kam. Deren Mann schenkt der Film eine lange elliptische, am Ende als paradoxe Zeitschleife strukturierte Nebenhandlung, in der dieser über die Tote sowie seine Schuld an ihrem Tod nachsinnt. Verschiedene Elemente (das Trinken von Wasser, lange Blicke aus Fenstern) verweben beide nahezu linear erzählten Stränge, als kleine Selbstanspielung des Regisseurs auch der Beruf des Mannes, der als Tontechniker mit der Tonangel einmal Zeyneps Beschwörungsgemurmel „hörbar“ macht.

Nach der Übergabe des Koffers schlägt der Film einen anderen Ton an: Mit Zeyneps stillem Staunen, als sie die Wäsche aus dem Koffer betrachtet, öffnet sich der Raum um sie, wobei sie unterschiedliche Gewänder ausprobiert. Noch ein letztes Mal zuckt sie zusammen, als sie ihr Vater im roten Negligé, Praline essend und mit offenen Haar vor dem Fernseher erwischt. Später braucht sie die Hilfe des Pagen, um die Überreste des toten Vaters im Bosporus verschwinden zu lassen. Selbst in dieser Klimax behält die Inszenierung ihre Zurückhaltung bei und konzentriert jede narrative Wendung in einer einzigen Einstellung, die zudem häufig mit statischer Kamera aufgenommen ist. Auch jetzt noch dominieren Gesten, Blicke und Bilder, die zwischen Beiläufigkeit und hochartifiziellen Tableaus oszillieren. Die emotionale Versteinerung Zeyneps, bildlich konsequent in innere Gefängnisbilder übersetzt, die sie häufig als dunklen Schattenriss vor hellem Hintergrund zeigten, kumuliert in einem grandiosen „Scherenschnitt“, der sie zusammen mit dem Pagen vor ein vom Mond erhelltes Fenster stellt – geteilte Einsamkeit in der Hölle der Schuld. So könnte man die enigmatischen Verdichtungen deuten, die der Film immer wieder sucht, auch wenn die Verknüpfung der Handlungsstränge manchmal mehr einfühlender Interpretation als filmischer Argumentation geschuldet ist. In dieser Perspektive erschließt sich jedenfalls die Schlusssequenz, in der Zeynep sehr früh erwacht, ihre Wäsche abstreift und nackt in die Dämmerung auf den Balkon tritt: ein ambivalentes Denk-, vielleicht auch Hoffnungsbild, das von einer Gestalt hinter allen Gestaltungen spricht, ohne die diversen Subtexte der Handlung zu unterschlagen. Angesichts solch subtiler Bildgestaltung fallen manche Längen kaum ins Gewicht; sie wiegt auch das mangelnde Verständnis des türkisch-islamischen Kontextes auf, demzufolge der Titel sich etwa auf eine Sage über gefallene Engel beziehe, die gegen Gottes Willen Menschenfrauen geheiratet und sie in der Kunst der Verführung unterwiesen hätten. Eine religiös-patriarchale Prometheus-Variante, die der Film aufs Deutlichste konterkariert.