07/01/2010
Thorsten Funke / Critic.de
Süt
Ein junger Mann will sich von seiner Mutter lösen und Dichter werden. Der türkische Regisseur Semih Kaplanoğlu erzählt seine Geschichte mit wenig Handlung und sehr langen, traumhaften Einstellungen.
Der erste Dialog, oder was man vielleicht so nennen könnte, kommt erst, als der Film bereits acht Minuten alt ist: „Willst du einen Kaugummi?“, fragt das Mädchen den Jungen, aber ein Gespräch entwickelt sich dann doch nicht, männliche Schüchternheit und weibliches Handygetippe stehen dem entgegen. Und so geht das Paar, das keins werden wird in diesem Film, noch einige Zeit lang schweigsam und meist getrennt durch ein paar Ruinen, um Mauerecken herum. Das sieht ein bisschen so aus wie bei Antonioni, aber man muss ja nicht immer gleich alles einordnen. Es geht schließlich auch um etwas anderes, auch wenn die langen statischen Einstellungen, die sparsamen Dialoge, die Handlungsarmut sowie das traumhafte Spiel mit Symbolen wirken können wie ein Sammelsurium internationaler Kunstfilm-Klischees.
Süt von Semih Kaplanoğlu ist der zweite Teil einer Trilogie. Der erste, Yumurta (2007), erhielt damals keinen deutschen Kinostart, der dritte, Bal, wird auf der kommenden Berlinale im Wettbewerb gezeigt. Die drei Filme bewegen sich chronologisch rückwärts in der Lebensgeschichte des Dichters Yusuf, von dem erwachsenen Heimkehrer (Yumurta) über den in die ferne strebenden Jugendlichen (Süt) bis zu seiner Kindheit (Bal). In Süt nun geht es vorrangig um die Ablösung von der Mutter, ein Unterfangen, das in der traditionellen Welt Anatoliens ein kompliziertes ist.
Yusuf (Melih Selçuk) und seine verwitwete Mutter Zehra (Basak Köklükaya) verkaufen in der türkischen Provinz Milch von Haustür zu Haustür (Süt ist das türkische Wort für Milch, und der Filmtitel ist hier ganz in dem Wortfeld zu suchen, an das eine Mutter-Sohn-Geschichte denken lässt). Das Geschäft geht schlecht und ist mühselig, und außerdem strebt Yusuf nach einem Leben in der Stadt, als Dichter. Erste Veröffentlichungen in Zeitschriften bestärken ihn in seinem Ehrgeiz, die bodenständige Mutter dagegen nicht. Sie sieht in dem Liebesgedicht ihres Sohnes nur einen Beweis, dass er eine Freundin hat und verlangt Informationen über das Mädchen, das es gar nicht gibt. Die Mutter erkennt nur das Leben, nicht die Poesie. Sie findet die Liebe nicht in der Kunst, sondern im Kaffeesatz, den sie sich von einer alten Frau lesen lässt, als sie sich in den Bahnhofsvorsteher verliebt. Aber anders als der Sohn findet sie die Liebe immerhin.
Ein solcher Konflikt lässt sich geschwind unter plakativen Begriffen wie „Tradition und Moderne“ fassen, und in der Tat erzählt Süt eine Geschichte aus einer Gegend im Umbruch. Hin und wieder werden moderne Hochhäuser ins Bild gerückt, noch im Rohbau zwar, aber bald wird das Leben hier ein anderes sein.
Das Interessante an dem mit deutschen Fördergeldern entstandenen Film ist nicht dieser etwas schlichte Gegensatz, sondern es sind einige kontemplative Einstellungen, die ihn wie einen Traum – und zuweilen genauso unverständlich – wirken lassen. Die längste und schönste dieser Einstellungen dauert gute vier Minuten und zeigt einen Schichtwechsel im Bergwerk. Bei unbeweglicher Kamera sieht man nichts als Yusufs kohlenschwarzes Gesicht mit einer Zigarette und einer leuchtenden Grubenlampe an der Stirn, im Hintergrund laufen seine Kollegen unter ihren eigenen Lichtkegeln vor der rabenschwarzen Nacht durch das Bild. Wäre sie noch ein paar Minuten länger, hätte man die Szene in einen James-Benning-Film kopieren können.
Das Traumhafte wird auch in so manchem Detail unterstrichen: Yusufs knallrotes Motorrad etwa, das sich von seiner in gedeckten Farben gestrichenen Umgebung abhebt wie ein Luftballon; eine Schlange, die zuerst bei einer Art archaischer Teufelsaustreibung aus dem Mund einer Frau entweicht und dann noch mehrmals im Verlauf des Films leitmotivisch auftaucht; ein riesiger Fisch, den Yusuf im Arm hält wie ein Baby.
Was dem einen als visuell mutig erscheint, mag der andere schlicht langweilig finden. Vor allem wohl jene Einstellung, in der der Regisseur sein Publikum zwingt, eine halbe Minute lang eine Zimmerecke anzuschauen, die außerdem noch jenseits der Schärfentiefe liegt, weil die Männer im fokussierten Vordergrund sich aus dem Bild geduckt haben. Immer wieder spielt die Kadrierung mit dem Gegensatz von Vorder- und Hintergrund. Jemand kommt von hinten nach vorne oder läuft von der Kamera in Richtung Horizont, auch mal aus der totalen Dunkelheit heraus oder in sie hinein. Dann wird die Leinwand ganz schwarz. Ein Bild für Anziehung und Abstoßung, mithin für das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn? Vielleicht.
Die meditative Ruhe, die sich beim Betrachten einstellt, wird manchmal fast überstrapaziert. Und dennoch gelingt es, den Blick zu lenken auf die mal zärtlichen, mal ungeduldigen Gesten zwischen Yussuf und seiner Mutter. Dieser Realismus reibt sich fruchtbar an den traumhaft-symbolischen Einzelteilen von Süt. Semih Kaplanoğlu will dazu bewegen, in aller Ruhe einen Traum zu beobachten, in völliger Wachheit. Wem es bei dem extrem langsamen Rhythmus des Films gelingt, nicht einzuschlafen, der wird darin vieles finden.