Joachim Kurz / Kino Zeit
Das stille Verrinnen der Zeit
Semih Kaplanoğlus neuer Film Süt / Milk bildet den zweiten Teil seiner "Yusuf"-Trilogie, die im Jahr 2007 mit Yumurta / Eggs ihren Auftakt nahm. Und doch ist alles ganz anders: Denn dieser, der zweite Teil, ist eigentlich der erste. Weil er zeitlich vor Auftakt der Trilogie spielt und zurückgreift auf die Jugend Yusufs, den wir in Yumurta als Mann mittleren Alters kennengelernt haben..
In Süt ist Yusuf (Melih Selçuk) Anfang 20 und lebt mit seiner verwitweten Mutter Zehra (Basak Köklükaya) in einer anatolischen Kleinstadt, wo sich die beiden mit dem Verkauf von Milchprodukten mühsam über Wasser halten. Gerade mal zwei Kühe sind es, aus deren Milch sie ihre Erzeugnisse herstellen. Und die Konkurrenz zu den aus dem Boden schießenden Supermärkten wird immer härter; auch in Anatolien macht sich die verändernde Bevölkerungsstruktur bemerkbar. Dennoch hält Zehra an den Traditionen des einfachen Lebens fest, wie sie es aus ihrer eigenen Familie kennt. Ihr Sohn hingegen, seit dem Tod des Vaters nominell das Familienoberhaupt, verfolgt ganz andere Ziele. Als eines seiner Gedichte von einer Literaturzeitschrift abgedruckt wird, nehmen seine Träume vom Leben als Schriftsteller immer mehr Gestalt an; Yusuf gerät zunehmend in Konflikt mit den Einstellungen und Haltungen seiner Mutter. Doch auch deren Leben verändert sich, als sie sich in den Bahnhofsvorsteher (Serif Erol) verliebt. Schließlich wird Yusuf zum Militär einberufen. Und hier, fernab der Vertrautheit und Enge seines Heimatortes, wird ihm klar, dass sein Leben vor einer entscheidenden Wende steht, dass er Entscheidungen treffen muss, die sein gesamtes weiteres Leben betreffen...
Viel Geduld verlangt Semih Kaplanoğlu mit Süt dem Zuschauer ab. Nach beinahe zehn Minuten fällt der erste Satz des Films, im Vergleich zu anderen Filmen sind die Dialoge verknappt, das Schweigen und das Unausgesprochene, Nichtgesagte nehmen einen mindestens ebenso großen Raum ein. Auch der langsame Fluss der Bilder mit zahlreichen langen und beinahe starren, dann wieder detailverliebten Einstellungen widersetzt sich den Sehgewohnheiten des modernen Kinos westlicher Prägung, zeigt bisweilen überdeutlich Einflüsse Tarkwoskis, Bergmans und anderer Autorenfilmer vergangener Tage. Auch deshalb, weil Kaplanoğlu seine verschiedenen Plots und Erzählebenen (zum einen die Mutter-Sohn-Beziehung, zum anderen aber die mannigfaltigen gesellschaftlichen Veränderungen, Brüche und Prozesse, die immer wieder ihre Schatten auf die privaten Verbindungen werfen) vor allem über Bilder und Symbole und kaum über Dialoge oder rasante Wendungen innerhalb der Geschichte erzählt.
Wer Zeit und Muse findet, sich auf die ganz eigene, traumverlorene, von Symbolen durchzogene Atmosphäre von Süt einzulassen, wer in den somnambulen Rhythmus des Films hineinfindet, der wird – abgesehen von dem beinahe wie ein Fremdkörper wirkenden Finale, bei dem das Tempo spürbar gesteigert wird – erleben, was Kino manchmal auch noch sein kann: Eine Einladung zum Träumen, eine Reise in die verlorene Zeit der Jugend, in der die Uhren anders tickten.
Gerade rechtzeitig kommt Süt nun in die Kinos, denn der letzte Teil von Semih Kaplanoğlus "Yusuf"-Trilogie wird bereits in wenigen Wochen seine Premiere feiern, der Film mit dem Titel Bal / Honey läuft im Wettbewerb der diesjährigen 60. Berlinale. Man darf gespannt sein, auf welche Weise Kaplanoğlu dieses Triptychon zu Ende bringen wird. Eines sollte dem erwartungsfrohen Zuschauer aber klar sein – ganz gleich, welche erzählerischen Kniffe der Filmemacher auch findet: Es wird sehr wahrscheinlich beim überaus bedächtigen und eher grüblerischen narrativen Duktus bleiben. Alles Andere wäre schon eine faustdicke Überraschung.